Brita Betz

Räbische Geschichten vom Dittl | Leseprobe

Es war ein Sonntagabend im Herbst. Der Rabe Dittl saß entspannt auf Noras oberstem Regalbrett und ließ seine Krallen baumeln. In Noras Zimmer war es gemütlich und warm, beide hatten alle Hausaufgaben für den nächsten Tag erledigt und genossen ihre freie Zeit.
„Wenn doch alle so schön einfach wäre, wie hier bei dir“, sagte Dittl und ließ sich eine Weintraube in den Schnabel fallen, die Nora ihm auf einem Teller in seinen Regalplatz gelegt hatte.
„Also sooo kompliziert ist dein Rabenleben nun auch nicht, Dittl“, fand Nora, die es sich auf ihrem Bett gemütlich gemacht hatte und ebenfalls eine Weintraube in ihren Mund fallen ließ. Nora war neun Jahre alt und ging in die dritte Klasse. Genau wie Dittl – nur dass der eben in die Rabenschule ging und Nora in eine Menschenschule. „Du hast eine nette Familie, sehr nette Rabenfreunde, wohnst in einem schönen Nest-Baumhaus und hast sogar eine Menschin zur Freundin“, grinste Nora. Dittl sagte oft Menschin statt Mädchen und Nora zog ihn dann damit auf.
„Du hast ja KEINE Ahnung!“, seufzte Dittl und senkte seinen Schnabel fast bis zu seiner Kuscheldecke. „ich habe die nettesten Freunde, die es gibt, das stimmt. Aber immer wenn wir uns treffen wollen, ist es irgendwie schwierig.“
Nora kannte Dittls Problem mit seinen Rabenfreunden schon. In den letzten Wochen war das Thema fast immer, wenn sie sich sahen, aufgekommen. Dittl und seine drei Rabenfreunde waren recht unterschiedlich und egal wo sie sich trafen, gab es irgendwelche Probleme für den ein oder anderen. „Dittl, Menschen sind eben unterschiedlich. Und Raben auch. Ihr mögt euch, das ist doch das Wichtigste. Ihr findet schon einen Platz, an dem ihr euch treffen könnt, so dass es für alle passt.“
Dittl zog skeptisch seine Stirn in Falten, sodass seine kurzen Kopffedern abstanden, nickte aber mit hängendem Schnabel: „Ich hoffe, du hast recht Nora. Mal sehen, wie es nächste Woche klappt.“
„Genau, Dittl. Lasse den Schnabel nicht hängen. Bis die Tage“, verabschiedete sich Nora, machte Dittl ihre Balkontüre auf und Dittl flog in den nebligen Herbstabend nach Hause in sein Nest.

Dittl, Pauli und das Problem mit dem Platz zum Treffen

„Drrrrrr ..“, klingelte am nächsten Tag schon kurz nachdem Dittl von der Rabenschule nach Hause gekommen war sein Rabofon. Pauli rief an, um zu besprechen, wo sie sich am Nachmittag treffen sollten. Pauli Socke war Dittls bester Freund, seit er vor zwei Jahren mit seiner Familie hergezogen und in Dittls Klasse gekommen war. Er hatte eine gestreifte Kralle, da er zu einem Viertel von einem Pfau abstammte. Das wusste jedoch außer Dittl, Lila, Franzi und Paulis Familie niemand, da Pauli immer lange Hosen und Socken trug, damit die gestreifte Kralle niemand sehen konnte.
„Hi Pauli, na was gibt es bei euch heute Mittag?“, fragte Dittl seinen Freund, wie jeden Mittag. Eigentlich sollte er die Frage besser sein lassen, denn er wurde jedes Mal neidisch.
„Knusprige Würmer im Pfannkuchenteig, Und zur Nachspeise Zuckerwürmer mit Blaubeeren. Mmmhh. Und bei euch?“
Genau, er hätte es wissen müssen. Vielleicht konnte er ja die nächsten Tage mal wieder gleich nach der Schule mit zu Pauli kommen? „Bei uns gibt es harten Körnerauflauf mit Rohkostsalat. Gut für den Schnabel.“ Tja, das war wohl tatsächlich gut für den Schnabel. Aber eben nicht gerade Dittls Leibspeise. Obwohl Dittls Mutter Margareta ein eigenes Raben-Restaurant hatte und hervorragend kochte, legte sie zu Hause mehr Wert auf gesunde Ernährung als auf Dittls Essenswünsche.
„Du Armer“, verstand Pauli ihn, „ich bringe dir nachher ein paar Zuckerwürmer mit, okay?“ Und wie das okay war!
„Wo treffen wir uns denn nachher?“, leitete Dittl die sich fast jeden Nachmittag wiederholende Frage ein. Denn das war gar nicht so einfach. Meistens trafen sie sich zu viert: Dittl, Pauli, Franzi und Lila. Die vier waren in einer Klasse und verstanden sich hervorragend.
„Unser Rabenleben könnte so schön sein, wenn wir einen Platz hätten, an dem wir uns treffen können“, seufzte Dittl.
„Ohne dass uns jemand stört“, stimmte ihm Pauli sofort zu.

Du meinst, das sollte doch kein Problem sein, einen Platz für vier Raben zu finden? Leider war das ziemlich verzwickt:

Es war Spätherbst geworden und ihre Treffen am Waldsee wurden langsam ungemütlich kalt. Du denkst, das macht Raben nichts aus? Da kennst du wohl Lila nicht. Lila Dünnkralle ist, wie der Name schon verrät, eine Dünnkrallenräbin. Ihre Krallen sind kaum dicker als Stecknadeln. Und deshalb sind sie etwa zehn Monate im Jahr eiskalt. Bei unter fünf Grad Kälte den Nachmittag mit Lila am See zu verbringen war unmöglich, selbst wenn sie ihre Krallenwärmschuhe trug.
Dazu kam das Problem mit den Spechten im Rabenwald. In der Gegend um die Rabenschule und den Waldsee hatte sich eine Bande von Jungspechten breit gemacht. Und die waren nicht nur zwei Köpfe größer als die Jungraben, hatten stahlharte Schnäbel und Köpfe wie Eichenholz, sondern benahmen sich auch wie „der Specht im Wald“. Das Rabensprichwort „sich benehmen wie ein Specht im Wald“ kam nicht von ungefähr. Rabe konnte leicht erkennen, wo die Jungspecht-Bande gewesen war: Angehackte Nester, leere Dosen Spechtbrause und sonstiger Müll ließen den Platz danach wie ein kleines Schlachtfeld aussehen. Dazu wussten die Jungspechte wenig mit sich anzufangen und freuten sich sehr, wenn ihnen ein paar kleine Raben zur Unterhaltung in die Quere kamen.

„Versuchen wir es heute nochmal unten am Waldsee?“, krächzte Dittl, was mehr wie eine ängstliche Frage als nach einem Vorschlag klang.
„Hm“, antwortete Pauli zögerlich, „mir fällt jetzt auch nichts besseres ein. Lila muss sich eben warm anziehen. Und wenn Spechte in der Nähe sind, brechen wir ab.“ Wenn das nur immer so einfach wäre.

Specht-Ärger am Waldsee

Franzi und Lila waren einverstanden und so trafen sie sich diesen Nachmittag nochmal an ihrem heimeligen Haselnussstrauch beim Waldsee. Der Herbstnebel hatte sich breit gemacht, als wolle er länger bleiben und die Äste ließen ihre bunten Blätter auf den kühlen Waldboden wehen. „Na, Lila, bereit für die Polarexpedition?“, scherzte Franzi. Lila sah mit ihrer dicken Wollmütze und den gefütterten Krallenschuhen wirklich nicht aus, als wolle sie einen Herbstnachmittag im Rabenwald verbringen.
„Eine Stunde wird schon gehen“, bibberte Lila trotzdem schon jetzt, „sonst fliegen wir eben ein bisschen, da wird uns warm.“
Dittl seufzte. Warum konnten sie nicht einfach zusammen abhängen, Kuchen essen, Rabikao trinken und einen schönen Nachmittag haben? Er hatte keine Lust sinnlos in der Gegend rumzufliegen.
„Zum Glück keine Spechte“, prüfte Franzi die Umgebung: Keine überdimensionierten Krallentapper, kein Specht-Müll, kein Klopfen zu hören. „Wir können es also hier für´s Erste versuchen.“
„Mir geht das SO auf die Nerven!“, schimpfte Lila energisch in ihrer etwas piepsigen Stimme, „wo steht eigentlich geschrieben, dass Spechte ein Vorrecht auf Plätze im Wald haben?! Warum sollen WIR weggehen, wenn wir zuerst da waren? Ich sehe das überhaupt nicht ein!“
„Jaja Lila, DU kämpfst dann als kleine Räbin gegen fünf Jungspechte und schlägst sie in die Flucht, oder wie?“, Pauli deutete mit einem Flügelschwung Richtung Himmel die fliehenden Jungspechte an. Dittl und Franzi lachten.
Lila lachte nicht: „Wollt ihr den Spechten den Wald überlassen? Und was machen wir dann? Uns gar nicht mehr treffen?“
Dittl blieb das Lachen in seinem Rabenhals stecken. Denn genau das war das Problem – eine echte Alternative gab es leider nicht. Trotzdem hatte er nicht die geringste Lust, sich mit den Spechten anzulegen. Auch Pauli und Franzi erinnerten sich noch zu gut daran, wie sie im Sommer von der Specht-Bande auf dem Schulweg abgepasst wurden. Zum Glück war ihre Lehrerin, Frau Blattgenau, im richtigen Moment vorbeigekommen. Vor der hatten auch die Jungspechte Respekt und so kamen die beiden mit ein paar Kratzern und einer ausgeleerten Schultasche davon. „Wenn man mit den Holzköpfen wenigstens reden könnte!“, ärgerte sich Pauli, der sehr gerne alle Probleme ausführlich diskutierte.

„HÄÄ, HOLZKÖPFE?! Ich höre wohl nicht richtig“, schallte es in ohrenbetäubender Lautstärke vom oberen Strauch herunter. In Sekundenschnelle waren die vier von fünf kräftigen Jungspechten mit beängstigend groben Erscheinungsbild umringt. Struppige, fettige Federn strömten den Geruch von drei Wochen ohne Dusche aus und dicke harte Schnäbel reckten sich wie Spieße von allen Seiten auf die vier Freunde zu. Ein stumpfer, aggressiver Blick fixierte Pauli. Seine Socke war in dem Trubel heruntergerutscht, sodass seine gestreifte Kralle sichtbar wurde. „He, Pfau, du Holzkopf, hat es dir die Sprache verschlagen oder was?!“, pickte ihn der Spieß-Schnabel zu dem grauenvollen Blick leicht in den Bauch. Pauli zitterte.
„Entschuldigung“, brauchte er leise und etwas krächzig hervor und versuchte einen Schritt zurückzuweichen, wobei er jedoch an die Rücken seiner Rabenfreunde stieß. „Ich dachte nur, wir könnten vielleicht miteinander reden, wie wir den Rabenwald gemeinsam nutzen. Er ist ja groß genug für alle und…“ Weiter kam Pauli nicht.
„HÄ HÄ HÄÄÄ, Rabenwald, habt ihr das gehört? Gemeinsam nutzen! Wir sind hier. Ihr haut ab. Fertig geredet, Pfau“, stupfte ihn der Specht jetzt etwas fester in den Bauch.
„Ahh!“ Pauli hielt sich einen Flügel vor den Bauch.
„Okay“, lenkte Franzi jetzt ein, „wir fliegen.“ Dittl nickte dankbar.
„Soso, ihr fliegt“, stieß jetzt ein etwas kleinerer Specht Franzi in den Bauch. „Ihr denkt, ihr könnt uns als Holzköpfe beschimpfen, euch an unserem Waldsee breitmachen und dann davonfliegen?“
„Entschuldigung“, wiederholte Pauli nochmal. Die Panik in seiner Stimme war nicht zu überhören. Da warf der kleinere Specht seine inzwischen leere Brausedose nach oben, sodass sie zuerst Lila und dann Pauli auf den Kopf traf. Die Spechte hielten sich mit ihren Flügeln die Bäuche vor Lachen: „Schaut, mal, echte Kopfball-Profis, die Pfauen, hast du noch eine Dose?“

Und dann platzte Lila der Kragen.

Dittl traute seinen Augen und Ohren nicht. Am liebsten hätte er sich gemeinsam mit seinen Freunden in einen Baum verwandelt. Wollte Lila sie alle umbringen?! Aber Dittl konnte gar nichts tun, denn er war starr vor Angst und Schreck. Lila pickte mit ihrem dünnen spitzen Schnabel blitzschnell nacheinander fest in die Bäuche der Spechte, die sich krümmten und mit lauten AHH! Und OHHOO! Ihre Spechtbäuche hielten. Damit hatten sie nicht gerechnet. Die Spechte brauchten einen Moment, um zu kapieren, was da gerade passiert war. Spechte waren ein bisschen langsam im Denken. Franzi erfasst die Situation als erste. Lila und Franzi packten ihre Freunde an der Kralle und bevor die behäbigen Spechte nach ihnen picken oder ihre Krallen zum Gegenangriff heben konnten, waren die vier hoch über dem Haselnussstrauch und flatterten in den verwinkelten Rabenwald, was die Flügel hergaben. Die Spechte nahmen zwar die Verfolgung auf, als sie sich wieder gesammelt hatte und stürzten sich wutentbrannt mit lautem „Euch kriegen wir und dann seid ihr Pfauenmus!“ hinter den Vieren her, kamen aber mit ihrem behäbigen Flügelschlag den wendigen Raben schon nach wenigen Metern zwischen den feingliedrig verwinkelten Ästen nicht mehr hinterher. Nachdem ein Spechte an einen Baumstamm geknallt war und ein weiterer sich in einem Zweig verheddert hatte, gaben die fünf auf. Die durch den Wald hallenden Drohungen konnten die vier Rabenfreunde zum Glück nicht mehr hören, so weit waren sie schon vom Waldsee entfernt und auch fast zu Hause.

„Lila, das war total gefährlich, was du da gemacht hast“, warf Franzi ihrer Freundin vor, als sie vor Lilas Nest angekommen waren.
„Es war unsere einzige Chance“, gab Lila mit erhobenem Kopf zurück. „Und so lassen wir uns doch nicht behandeln, Leute, oder? Der Rabenwald gehört schließlich allen Vögeln.“
„Umbringen lassen will ich mich aber auch nicht“, warf Pauli ein, „wir müssen uns bitte erstmal einen anderen Ort für unsere Treffen suchen. Mir reicht es gerade. Diese miesen Holzköpfe! Mich als Pfau zu beschimpfen…“ Pauli versagte die Stimme. Dittl nickte resigniert. Warum musste alles immer so kompliziert sein? Warum hatten sie nicht ein warmes Nest für sich, seine Mama brachte ihnen Kuchen und alles wäre gut?

Die vier trösteten Pauli noch kurz und verabschiedeten sich heute schon früh. Nicht ohne das unvermeidliche Thema wieder aufzugreifen: „Vielleicht probieren wir es morgen mal bei dir, Franzi?“, schlug Dittl vor. Franzi nickte.

Dittl wollte auf keinen Fall die nächsten Tag nochmal ein Treffen bei sich zu Hause vorschlagen, das hatte ihm letzte Woche schon gereicht. Tante Elfriede war bei Familie Groß zum Kaffee da gewesen, wie fast jeden Nachmittag. Elfriede war die große Schwester von seiner Mutter. Sie aß für ihr Leben gerne Torten und sah fast aus wie eine schwarze, wohlgenährte Taube. Und weil Dittls Zimmer zu klein für vier Jungraben war, saßen sie mit Dittls Mutter und ihrer Schwester Elfriede am Kaffeetisch.
„Na, wie läuft es in der Schule?“ begann Dittls Mutter das Gespräch – mussten sie unbedingt über SCHULE sprechen?! Bis sie dann gemeinsam auf Dittls Matheprobleme kamen und die anderen befragten, wie es ihnen denn mit den Aufgaben in der letzten Mathearbeit gegangen war, die Dittl so verhauen hatte. Dittl hätte sich am liebsten in sein Zimmer verkrümelt und Superrabe-Comics gelesen. Die beiden Räbinnen redeten eigentlich permanent, sodass Dittl sich mit seinen Freunden überhaupt nicht unterhalten konnte. Das reichte erstmal für eine Weile.

„Zu Franzi, ja“, antwortete Pauli zögerlich. „Ist Dagi zu Hause, Franzi?“
„Keine Ahnung, kann aber gut sein“, zuckte Franzi mit den Flügeln und warf ihren Freunden einen entschuldigenden Blick zu. „Wir probieren es einfach, oder?“