Brita Betz

Blutet nicht

Kurzgeschichte
Erscheiniungsjahr 2023

Aaahhhh!“, ein heller Kinderschrei dringt in unsere Idylle ein.

Hier leben viele Kinder. Das schöne Altbau-Seminarhaus mit Garten ist umgeben von Mehrfamilienhäusern und, weiter entfernt, auch einigen Hochhäusern. Und Kinder schreien eben manchmal.

Wir lassen uns also nicht stören. Das Seminar ist inspirierend. Wir schreiben Geschichten aus unserem Leben, haben gerade Pause und lassen unsere Gesichter durch die goldene Herbstsonne wärmen, die großzügig durch die hohen Fenster den Raum durchflutet. Kaffeeduft vermengt mit wohliger Zufriedenheit liegt im Raum.

Aaiiihhhhh!“, es lässt sich kaum mehr überhören. Julia und ich richten unsere Blicke zum Fenster zur Straße hin. Auf dem aufgerissenen Asphalt am Ende des abschüssigen Weges von der Straße zu unserem abgeschirmten Seminarhaus sitzt kurz vor unserem Fenster ein kleines Mädchen und brüllt.

Nach kurzem Zögern stehe ich auf. Das ist wieder so ein Moment. Ich merke, dass ich unbedingt „das Richtige“ tun sollte. Auch wenn ich mich lieber weiter mit Julia über ihre Ideen für einen Krimi mit ihrem toten Exmann in der Hauptrolle unterhalten hätte. Das Mädchen hat dunkle lange Haare und ist etwas zu dünn für die Jahreszeit gekleidet. Es trägt eine No-Name Jogginghose und Discounter-Turnschuhe. Ein paar Meter von ihr entfernt liegt ein kleines Kinderfahrrad. Wahrscheinlich ist sie den Abhang runtergefahren und in die kaum sichtbare Absperrkette gerast. Eltern sind keine in Sicht, dafür ein kleiner Bruder, nicht älter als drei Jahre. „Syrer oder Afghanen?“, denke ich und schäme mich noch bevor der Gedanke zu Ende gedacht ist für mein Schubladendenken. Der kleine Bruder rennt offensichtlich überfordert hin und her. Ich öffne das Fenster und weiß, dass etwas zu tun wäre. Ein kühler herbstlicher Windstoß vermischt mit dem beißenden Abgasgeruch von der Straße bläst in unseren Seminarraum.

Inzwischen sind zwei männliche Teilnehmer aus unserem Kurs auf ihrem Weg zum Kuchen holen bei dem Mädchen angekommen.

Alles in Ordnung?“, fragt der eine und beugt sich zu dem Mädchen.

Hol‘ Papa!“, brüllt das Mädchen daraufhin ihren Bruder an, der sofort in Richtung Hochhäuser davon saust.

Brauchst du Hilfe?“, fragt der andere Mann das Mädchen, das daraufhin wieder schreit.

Ein bisschen Drama-Queen“, meint Julia. „Blutet nicht, halb so wild“, winkt sie ab und schenkt sich Kaffee nach.

Ich stehe noch am Fenster und rechtfertige innerlich meine Tatenlosigkeit. Es sind ja schon zwei Leute bei dem Mädchen und bieten Hilfe an. Und eine schlimme Verletzung ist nicht sichtbar, zumindest blutet nichts. Und der kleine Bruder holt ja schon den Papa. Also kann ich guten Gewissens das Fenster wieder zumachen. Es wird sich gekümmert.

Das Fenster ist zu, der Raum ist etwas ausgekühlt und der Abgasgeruch hat sich mit unserem Kaffeeduft vermischt. Auch die schöne Herbstsonne ist hinter einer dunklen Regenwolke verschwunden. Auf unseren Kuchen müssen wir jetzt wohl warten. Ich stehe noch am Fenster, das gute Gewissen fühlt sich nicht zu Hause in meinem Bauch, auch wenn der Kopf einen Freischein namens „alles richtig gemacht“ erteilt hat.

Ich denke daran zurück, als meine Tochter in dem Alter des Mädchens war und einen Fahrradunfall hatte. Erinnere mich an meine Sorge, ihren Schreck und wie wir danach zum Trost ein Eis essen gegangen sind. Im Nachhinein sagt meine heute erwachsene Tochter, dass Stürzen und Kranksein immer auch irgendwie schön war.

Dann kommt der Vater der Kinder mit schnellem Schritt in die Szene marschiert und ich werde aus meinen Erinnerungen gerissen. Der kleine Bruder rennt neben ihm her. Meine Erleichterung, dass die Situation sich gleich in Wohlgefallen auflösen wird, hält nur einen Augenschlag an.

Es tut mir leid, ich habe die Kette nicht gesehen!“, ruft das Mädchen ihrem Vater entgegen. Ein Hauch von Panik klingt in ihrer Stimme durch. Der Vater hat eine Zornesfalte auf der Stirn, die Augenbrauen in der Mitte zusammengezogen – oder war das eine Sorgenfalte? Er grüßt nicht, sagt nichts und schaut niemanden an. Nimmt das Kinderfahrrad in die eine und den Arm des Mädchens in die andere Hand und zieht es mit sich Richtung Hochhaussiedlung.

Die beiden Männer holen jetzt den Kuchen und ich setzte mich mit Julia in ein verbliebenes sonniges Eckchen, um unser nettes Gespräch über ihr Krimi-Projekt fortzusetzen.

Unangenehm, dieser Abgasgeruch“, findet Julia.

Stimmt“, schnuppere ich